„Rassismus“: eines der zwei Wörter, die die amerikanische Autorin Jodi Picoult auf Deutsch sagen kann, und gleichzeitig das Thema ihres neusten Romans, „Kleine große Schritte“. Das andere Wort: „Wasser“ – passend zu ihrem Besuch in der Buchhandlung Heymann im Hamburger Stadtviertel Eimsbüttel, in die der Verlag C. Bertelsmann vergangenen Dienstag zur Lesung einlud.
Wasser gibt es in der Hansestadt in rauen Mengen … und leider ist auch Rassismus schon lange nichts mehr, was nur im großen, bösen Amerika Wellen schlägt. Spätestens seit der Flüchtlingskrise wurde wohl jeder Zeuge von rassistischen Bemerkungen und Ansichten. Gerade vergangenen Samstag marschierten in Polen rund 60.000 Nationalisten und Rechtsradikale für ein „weißes Europa“. Bilder und Worte, die einem unbegreiflich erscheinen, die sich in der heutigen Zeit jedoch leider häufen.
Dass der Rassismus nicht urplötzlich aus dem Boden gestampft wurde oder seit dem Bürgerkrieg im Tiefschlaf gelegen hatte, sondern auch in den letzten Jahrzehnten bereits unterschwellig traurige Realität in ihrem Land war, weiß Picoult. Seit letztem Jahr seien Hassreden jedoch quasi legalisiert – seit in Washington D.C. ein neuer Präsident im Weißen Haus sitzt (der auf der Lesung bewusst nur mit „Der, der nicht genannt werden darf“ betitelt wurde).
Tosender Applaus und Blitzlichtgewitter begrüßten die Autorin auf ihrer ersten Deutschland-Buchtour bei ihrem Stopp in der Hansestadt. Mit ihrem Roman „Beim Leben meiner Schwester“ fing meine persönliche Obsession an. Bisher habe ich Picoults Werke in der Originalsprache verschlungen, dank dem C. Bertelsmann Verlag kam ich nun zum ersten Mal in den Genuss, mich auf Deutsch von Picoults Schreibtalent begeistern zu lassen.
Picoult über den Roman: „Es war meine größte Herausforderung.“
„Kleine große Schritte“ erschien in Amerika bereits im Herbst 2016 unter dem Titel „Small Great Things“. Seitdem reist Jodi Picoult mit ihrem neusten literarischen Werk durch die ganze Welt. Doch mit dem Thema Rassismus beschäftigt sie sich schon viel länger. Vor Jahren schon überlegte sie, eine Geschichte zu dem brisanten Thema zu schreiben; die zündende Idee lieferte ihr dann wie so oft die erschreckende Realität.
2012 verklagte eine Krankenschwester das Krankenhaus, in dem sie arbeitete, da es ihr auf Wunsch rechtsradikaler Eltern verbat, sich als Afroamerikanerin um das Neugeborene zu kümmern. Die Krankenschwester gewann die Klage, und bei Jodi Picoult fingen die Rädchen an, sich zu drehen. Was wäre, überlegte sie, wenn der Vorfall nicht so glimpflich ausgegangen wäre? Was, wenn die Schwester in dem Moment mit dem Kind alleine gewesen wäre, wenn ein Notfall eintrat? Wie würde sie handeln? Was für Konsequenzen hätte ihre Entscheidung?
Wie so viele von Picoults Romanen basiert somit auch „Kleine große Schritte“ auf wahren Begebenheiten, die die Erfolgsautorin provokativ auf die Spitze getrieben hat. Zur Vorbereitung betrieb Picoult umfangreiche Recherche – tatsächlich war es die meiste Vorarbeit, die sie jemals für einen Roman geleistet hatte.
„Wenn ich von meinen Lesern verlange, sich mit dem Thema [Rassismus] auseinanderzusetzen“, so Picoult, „dann muss ich es zuerst selbst getan haben.“ Außerdem wolle sie dieses brisante Thema mit dem gebührenden Respekt behandeln. Lange Zeit war sie sich nämlich gar nicht sicher gewesen, ob sie als weiße Frau über Rassismus schreiben oder reden durfte. Schließlich entschied sie sich dafür: „Rassismus wurde von uns [Weißen] erschaffen, es liegt nun an uns, ihn abzuschaffen.“
Ihre eigene Verarbeitung des Themas hätte ihr Leben verändert – und auch die Art, wie sie ihr Leben lebt. Sie gehe nun bewusster durch die Welt. „Ignoranz ist ein Privileg der Weißen“, so Picoult. Man müsse sich bewusst machen, dass Rassismus nicht nur in den großen Gesten und übelerregenden Parolen der Rechtsextremen existiert und auch nicht nur in einzelnen Personen zu erkennen sei. Institutionen z. B. bevorteilen oft Weiße; Vorurteile beeinflussen Entscheidungen bei der Bildung, bei der Wohnungs- und Jobsuche. Auch wenn wir persönlich keine Rassisten sind, ziehen wir doch öfter, als uns bewusst ist, Vorteile aus den rassistischen Einstellungen anderer.
Damit wolle sie niemandem ein schlechtes Gewissen einreden – und man solle sich auch nicht schuldig fühlen, als Weiße geboren zu sein: Niemand ist dafür verantwortlich, mit welcher Hautfarbe er oder sie auf die Welt kommt. Picoult ruft stattdessen dazu auf, in einen Dialog zu treten. „Wir haben alle viel zu viel Angst, unseren Gegenüber zu beleidigen“, so Picoult. Dabei sei es so einfach, zuzugeben, dass man nicht alles über das Leben und die Lebensweise des anderen kennt. Oftmals gehe es dem anderen genauso. Es ginge darum, jede noch so dumm erscheinende Frage stellen zu dürfen – und nicht über den anderen zu urteilen. „Sagt einfach: Ich will lernen.“
Runde Charaktere: über unperfekte Heldinnen und Monster, die Mitleid erregen
Was mir bei Jodi Picoults Romanen immer wieder auffällt, sind die authentischen runden Charaktere, die ihre Bücherwelten bewohnen. Um den richtigen Ton zu treffen, verbringt die Autorin überdurchschnittlich viel Zeit mit der Recherche. Dabei ist es ihr wichtig, nicht nur mit einer Person zu sprechen, die ihrer Figur ähnelt, sondern diverse Einblicke in die Szene zu bekommen.
Um die Figur der Ruth zu erschaffen zum Beispiel – eine afroamerikanische Krankenschwester – sprach Picoult nicht nur mit Krankenschwestern, um die technischen Mittel und die Sprache richtig zu treffen, sondern auch mit Afroamerikanerinnen in Vereinen und bei anderen Treffen, die mit ihr über ihr Leben als Farbige im heutigen Amerika sprachen; ein Leben, bei dem Rassismus auf der Tagesordnung steht.
Wie es war, sich in einen Skinhead einzufühlen
Für ihren männlichen Protagonisten Turk – einen trauernden Vater, der Ruth wegen ihrer Hautfarbe verabscheut – sprach Picoult mit ehemaligen Neonazis. Die zwei Männer hatten ein Leben des Hasses hinter sich gelassen und arbeiten nun für ein besseres Miteinander sowie für die Überführung von anderen Rechtsradikalen. Dank ihnen bekam Picoult einen Einblick in abscheulichste Praktiken, die auch heute noch überall in Amerika von Neonazis praktiziert werden – und nicht nur in den abgeschiedensten Gegenden des Landes, betont die Bestsellerautorin.
Dank der Hasstiraden eines gewissen Politikers scheinen Hasspredigten legalisiert; nicht nur auf den Straßen sind Skinheads mit ihren Parolen unterwegs, sie gehen auch aktiv auf Universitätsgelände, so Picoult. „Redefreiheit bezieht sich nicht auf Hasspredigten“, wiederholt die Autorin mehrmals.
Aber es gehe sogar noch weiter als bloßes öffentliches Deklarieren: „Skinheads sehen aus wie Sie und ich“, sagte Picoult am Dienstagabend in Hamburg. Keine (oder nicht mehr nur) rasierten Schädel, keine sichtbar getragenen Hakenkreuze oder ähnliche Zeichen, die einem sofort einfallen, wenn man an Neonazis denkt. Heutzutage laufe, wie bei so vielen anderen Themen, vieles übers Internet, erklärt Picoult. Skinheads verbreiten ihre Meinungen über Social Media, oftmals anonym und mit erschreckender Wirkung.
Sie habe sich dabei dreckig gefühlt, verrät Picoult über den Schreibprozess ihrer Figur Turk. So etwas habe sie noch bei keinem anderen Buch, bei keinem anderen Charakter empfunden. „Ich musste, nachdem ich seine Passagen geschrieben habe, erst einmal duschen gehen.“
Der wahre Protagonist ist der Leser selbst
Am nächsten fühlt Jodi Picoult sich der Figur Kennedy, der weißen Anwältin von Ruth. Viele ihrer eigenen Meinungen und Vorurteile und, ja, auch ihre Ignoranz, spiegeln sich in denen von Kennedy wider. Picoult selbst machte durch die Recherche für das Buch und das Schreiben eine Verwandlung durch. Sie verrät uns: „Anfangs denkt man vielleicht, man lese ein Buch über Ruth, aber wenn man das Buch beendet, erkennt man, dass man tatsächlich Kennedys Geschichte gelesen hat – und damit auch seine eigene.“
Runde Charaktere sind das A und O für die amerikanische Autorin. Es sind keine einseitig guten oder schlechten Menschen, auch die scheinbar Guten machen Fehler, haben Probleme und schlechte Eigenschaften. Dafür empfindet man auch mal Mitleid mit dem Bösewicht – unbeabsichtigt, sodass man direkt von seiner eigenen Reaktion angeekelt ist.
„Ich begegne auf der Straße kaum Heiligen – und auch Monster haben Eltern, die sie lieben“, erklärt Picoult ihre Entscheidung, ihre Romane mit multidimensionalen Charakteren zu bevölkern.
„Kleine große Schritte“ habe sie chronologisch geschrieben, statt die Passagen einzelner Charaktere geschlossen zu verfassen. Sie wäre sich schon manchmal vorgekommen, als hätte sie mehrere Persönlichkeiten. Andererseits wäre der einzige Unterschied zwischen Schizophrenie und Schreiben auch nur, so Picoult, dass man fürs Schreiben bezahlt würde.
Über Aktualität, den richtigen Riecher und Lachmusekln
Just am Tag der Lesung kam erneut eine Schreckensnachricht aus den USA: Erneut gab es einen Amoklauf, dieses Mal in einer Grundschule. Jodi Picoult, die bereits vor zehn Jahren in einem Roman Amokläufe thematisierte, war entsetzt, aber nicht überrascht. Es würde leider auch nicht das letzte Mal sein, dass so etwas passiere, so lange wie die Schützen in den Medien glorifiziert würden und die Waffengesetze in den USA sich nicht änderten, so Picoult. Sie schlug vor, sich in der Berichterstattung stattdessen auf das Leben der Opfer zu konzentrieren.
Ihre Romane zeichnen sich durch ihre Aktualität aus. So unterschiedlich die Geschichten sind, so behandeln sie doch immer das heutige Leben in Amerika, Menschen, in denen man sich wiederfindet, und Themen, die die Welt bewegen.
Ob sie in die Zukunft sehen könne, wird Jodi Picoult oft gefragt. Sie lacht, als es auch an diesem Abend zur Sprache kommt. Oftmals käme es wirklich vor, dass sie über ein Thema schreibt und kurz nach der Erscheinung des Romans passiert etwas oder das Thema kommt aus einem anderen Grund in den Vordergrund. Sie selbst erklärt es sich so, dass sie über Themen schreibt, die sie als Mutter/Frau/Amerikanerin/Mensch interessieren oder ihr Sorgen bereiten. Und das scheint in den Lesern Anklang zu finden. Diese haben ähnliche Ängste, stecken in ähnlichen Krisen oder moralischen Dilemmas.
Ein weiteres Merkmal von Picoults Romanen ist der häufige Bezug zu Familien, so auch in ihrem neusten. Während tiefgreifende Themen die Leben der Protagonisten beeinflussen, sucht jeder der drei doch nur einen Weg, eine bessere Welt für ihre Kinder zu schaffen.
Lachen erlaubt!
„Das Buch kann nicht nur dunkel, schrecklich und grausam sein.“ Picoult versichert uns, dass auch leichte Szenen und Humor im Roman vorkämen. „Es muss den Lesern erlaubt sein, zu lachen.“
Die Autorin
Jodi Picoult wurde 1966 in New York, USA, geboren und studierte an den Elite-Universitäten Princeton und Harvard. Ihre Karriere als Autorin begann 1992; mehr als zwanzig Romane sind inzwischen von ihr erschienen (sogar mir fehlt noch der eine oder andere). Sie wurde bereits mehrfach ausgezeichnet (u. a. 2003 mit dem renommierten New England Book Award). Ein wenig mit Deutschland verbunden könnte Picoult sich dennoch fühlen: Immerhin lebt sie mit ihrem Mann in Hanover, New Hampshire.
Noch mehr Picoult
Wer noch nicht genug von der amerikanischen Autorin hat, kann auf deren offiziellen Website detaillierte Hintergründe zu ihren Romanen sowie häufige Fragen (und die dazugehörigen Antworten) nachlesen.
Dank
Mein Dank geht an die Heymann Buchhandlung Eimsbüttel für den schönen Abend sowie an den Verlag C. Bertelsmann für das Gewinnspiel, bei dem ich zwei Tickets für die tolle Veranstaltung gewonnen habe, sowie für das Rezensionsexemplar von „Kleine große Schritte“.
Jodi Picoult: Vielen Dank, dass Sie nach Deutschland gekommen sind und sich so viel Zeit genommen haben.
Und natürlich: Danke an euch, liebe Leser, fürs Durchhalten (es war ja doch ein etwas längerer Beitrag). Ihr seid genial!
Mir läuft gerade noch eine Gänsehaut über den Rücken.
Ich durfte Jodi Picoult am Mittwoch in Düsseldorf erleben.
Danke Bertelsmann Verlag für die Karten.
Es war ein wunderschöner Abend.
Jodi Picoult ist so eine wunderbare Frau.
Ich möchte mich gerne bei der Verkäuferin von der Mayerschen Buchhandlung bedanken, die es Möglich machte das ich ein signiertes Buch bekam.
Nach der Lesung stand eine riesige Schlange am Signiertisch und daher war es nicht möglich für mich ein signiertes Buch zu bekommen, da ich auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen bin.
Die Verkäuferin ließ in meinen Namen ein Buch signieren und schickte es an eine Filiale in meiner Nähe.
Danke an Alle die diesen Abend unvergesslich gemacht haben.
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