Rezension

Zwischen Schein und Sein: Erfolgsautorin Beth Revis lässt mich in „A World Without You“ an Zeitreisen glauben

p1015025-minEin Junge entdeckt, dass er durch die Zeit reisen kann, und kommt daraufhin auf eine
besondere Schule für Jugendliche wie ihn. Als Bo seine Freundin Sofía aus Versehen im Jahr 1692 zurücklässt, setzt er alles daran, sie zu retten …

Klingt nach einem Plot wie Harry Potter oder X-Men, richtig?

Falsch. Spätestens nach ein paar Kapiteln von „A World Without You“ sieht man Bos Geschichte plötzlich mit anderen Augen. Denn dann erfährt man von Bos Schwester Phoebe, dass Bo sich in einer therapeutischen Einrichtung befindet, da er an Wahnvorstellungen  leidet. Und Sofía ist alles andere als in einem Zeitstrom verloren – sie hat Selbstmord begangen.

Eine Geschichte, zwei Sichtweisen.

zitat2Ich wusste also bereits früh im Roman: Ich kann Bo nicht trauen. Wo andere Autoren die Offenbarung eines unzuverlässigen Erzählers spät in die Handlung einführen, setzt Beth Revis dieses Element bereits gleich zu Beginn ihres Romans ein – und erschafft so ein unvergleichliches Lese-Erlebnis.

Revis hat mich in die fantastische Gedankenwelt von Bo entführt, nur um das Traumgebilde im nächsten Augenblick einzureißen. Ein Buch zwischen Schein und Sein, zwischen wundersamer Fantasie und herzzerbrechender Realität.

Der Titel allein ist ein Roman für sich. Sofort fliegen meine Gedanken in die unterschiedlichsten Richtungen: Wessen Liebesgeschichte ist es? Wo ist die geliebte Person jetzt? Aber auch: Wie geht jemand mit diesem Verlust um? Wie verändert dieser ihn?

Als ich „A World Without You“ dann gelesen habe, hat es all diese Fragen beantwortet – und noch mehr aufgeworfen. Plötzlich habe ich mich gefragt: Wie würde ich mit diesem Verlust umgehen? Nicht nur dem Verlust einer geliebten Person, sondern auch im weiteren Verlauf der Handlung dem Verlust meiner Identität und von der eigenen Wahrheit. Zusammen mit Bo habe ich mich zwar auf keine Zeit-, aber dafür auf eine sehr emotionale Reise begeben, immer mit der Frage vor Augen: Was ist real und was nicht?

Ich habe mich auf die fantastische Reise eingelassen.

Oft habe ich eine Passage gleich zweimal gelesen: einmal unter der Prämisse, dass Bo tatsächlich Superkräfte besitzt und mich als Leser mit in seine Welt nimmt. Hier erfahre ich, dass er den Zeitstrom aufrufen kann, auf dem Ereignisse und Menschen durch Fäden miteinander verbunden sind. Seine Fähigkeit erlaubt es ihm, entlang dieser Fäden an jedmöglichen Moment zurückzukehren und diesen nicht nur von außen zu beobachten, sondern auch tatsächlich in ihn einzugreifen. Seine Mitschüler sind genauso besonders wie er – Gwen, die Feuer mit den bloßen Händen entfachen kann, Harold, der mit Geistern kommuniziert, Ryan, der Telekinese und die Manipulation anderer mit seinem Geist beherrscht. Und Sofía, das unsichtbare Mädchen, dessen Verschwinden den Roman einleitet.

zitat3Beim zweiten Mal Lesen habe ich bereits überlegt, wie Bos Abenteuer in unsere (vergleichsweise langweilige) normale Welt umgewandelt werden könnten und was dies für Bo bedeuten würde. Als Scifi-Fangirl habe ich trotzdem bis zum Ende gehofft, dass Bo aus der Geschichte als glücklicher Superheld hervorgeht, der die ganze Welt, seine Eltern und das FBI an der Nase herumgeführt hat. Letztere kommen nämlich zu seiner Schule, um Näheres über die Umstände vom Tod von Sofía zu erfahren.

Ihr Auftauchen leitet einen Wandel in Bo ein. Er wird mit der gängigen Meinung konfrontiert, dass Sofía nicht mehr zu retten sei. Etwas, was er bis zuletzt nicht akzeptieren kann. Für ihn ist sie lediglich in einem anderen Jahrhundert gefangen und nur er besitzt die Macht, sie zurückzuholen. Was er auch wieder und wieder versucht. Der Zugang zum Jahr 1692 bleibt ihm jedoch verwehrt. Darum reist er zu verschiedenen Zeitpunkten in seiner Beziehung mit Sofía und versucht sie oder auch sein früheres Ich zu warnen.

Die Idee des Zeitreisens wirkt zu jedem Zeitpunkt authentisch. Revis hat ihr Faible für Science-Fiction hervorragend genutzt, um eine gut ausgearbeitete fantastische Welt zu erschaffen. Durch den Ich-Erzähler sehe ich das, was Bo sieht, und darf einen Moment lang glauben, was er glaubt.

Zwischenmenschliche Beziehungen stehen beim Plot im Mittelpunkt.

Bei all den fantastischen Elementen muss jedoch ein Punkt hervorgehoben werden: Der Plot wird nicht durch viel Action vorangetrieben, so wie man es von Beth Revis’ Godspeed-Serie kennt, sondern fokussiert sich auf Bos Beziehungen mit den Menschen in seinem Umfeld: seinem Therapeut, Dr. Franklin, sowie den anderen Jugendlichen. Auffallend gering fällt die Nähe zu seiner eigenen Familie auf, von der er sich missverstanden fühlt.

Revis gibt authentische Einblicke in das Leben der Angehörigen.

Während Bo auf einer isolierten Insel zur Schule geht, dreht sich das Leben seiner Schwester Phoebe in ihrer Heimatstadt um Freunde und Zukunftspläne. Doch hinter der alltäglichen Fassade ist dieses Leben alles andere als normal: Die Familie lebt sich auseinander, und Phoebe kann sich ihren Freunden nicht anvertrauen. Die Geschwister haben kaum Kontakt. Und doch lässt Bos Krankheit Phoebe nicht los und folgt ihr wie ein Schatten durchs Leben: Der Wunsch, die Eltern nicht zu enttäuschen, das perfekte Kind zu sein, es allen recht zu machen, fordert irgendwann seinen Tribut.

zitat4Phoebes Kapitel haben mir das schwere Schicksal der Angehörigen von Menschen mit psychischen Störungen vor Augen geführt und eine gänzlich andere Qualität zum Roman gebracht. Revis schreckt auch nicht vor unangenehmen Wahrheiten zurück, wie zum Beispiel die Erleichterung, die Phoebe manchmal empfindet, wenn Bo nach einem Besuch zurück zur Schule fährt. Oder dass sie sich manchmal vor ihm fürchtet. Recherchieren musste Beth Revis für die Rolle der Schwester nicht: Sie selbst hatte einen Bruder, dem es ähnlich erging wie Bo. Revis’ Umgang mit der Krankheit und deren Auswirkungen auf Phoebes alltägliches Leben klingt daher besonders wahr an.

Realität oder Traumwelt: Für was entscheidet sich Bo am Ende?

Als das FBI zu seiner Schule kommt, ist Bo gezwungen, sich mit dem, was passiert ist, auseinanderzusetzen. Er bleibt misstrauisch. Videoaufnahmen, die eigentlich ihn und seine Mitschüler beim Üben ihrer Fähigkeiten aufzeichnen sollten, zeigen plötzlich nur harmlose, nicht-magische Ausraster der Jugendlichen – Natürlich, sagt sich Bo. Sicherlich hatte Dr. Franklin sie geändert, um die Schüler vor dem FBI zu beschützen. Solche und ähnliche Gedanken ermöglichen es ihm, an seiner Wahnvorstellung festzuhalten.

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Ausschnitt aus „A World Without You“ von Beth Revis. Leider gibt es diesen Roman bisher nur auf Englisch.

Nach und nach sieht sich Bo jedoch immer mehr von seiner Fähigkeit in Stich gelassen und wird unausweichlich auf eine Entscheidung hingelenkt. Auch hier ist die Umsetzung Revis’ unglaublich intensiv, einfühlend und schön mitzuerleben. Sie lässt Bo die Wahl. Für ihn gibt es zwei Möglichkeiten, sich seine Welt zu erklären: schmerzhafte Realität oder erlösende Traumwelt. Die Entscheidung liegt bis zum Schluss bei ihm.

Fazit

Beth Revis schafft es in ihrem Roman „A World Without You“, schwerwiegende Themen wie Schuld, Trauer und Schmerz auf fantastische Weise umzusetzen. Ihr Schreibstil lässt einen die Seiten verschlingen, und die Charaktere sind durch den Hintergrund der persönlichen Erlebnisse der Autorin herzzerreißend bewegend. „A World Without You“ ist kompromisslos ehrlich über ein Thema, das oft noch tabu ist, und ruft Emotionen hervor, die dem Leser noch lange nach der letzten Seite verfolgen. Besonders für Leser geeignet, die sich auf die wundersamen Möglichkeiten von Bos Traumwelt einlassen können.

Plot:              bewertungbewertungbewertungbewertungbewertung

Charaktere: bewertungbewertungbewertungbewertungbewertung

Schreibstil: bewertungbewertungbewertungbewertungbewertung

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Dank der YA Quarterly Box habe ich das Buch inkl. Anmerkungen von Beth Revis persönlich erhalten! Auf Notizzetteln gab sie kleine Einblicke in ihren Schreibprozess und die Hintergründe für „A World Without You“.

2 Kommentare zu „Zwischen Schein und Sein: Erfolgsautorin Beth Revis lässt mich in „A World Without You“ an Zeitreisen glauben

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